Wir sind durch den Nationalpark Sierra Nevada in Spanien gewandert. Die Wanderung war schon ziemlich abenteuerlich, da wir Flüsse überqueren und am Steinfelsen lang klettern mussten. Aber es machte unglaublich viel Spaß und tat sehr gut.
Bis mitten auf dem Weg plötzlich ein toter Steinbock lag, eindeutig durch ein Raubtier angegriffen. Die Kehle war offen und es konnte noch nicht all zu lange her sein.
Ein Moment Mal, ein Raubtier? Hier gibt es Raubtiere? Schlagartig kam die Panik hoch und mein Flucht- oder Angriffsmodus wurde aktiviert.
Der Steinbock war schon groß. Das andere Tier also noch größer? In Spanien gibt es Bären, Luchse und Wölfe. Ja, ein Bär könnte es sein.
Mein Gefahrenmodus zeigte sich von der besten Seite.
Ich sah überall Tierspuren und kramte in meinem Kopf die passenden Infos raus. All meine Sinne waren dermaßen zugespitzt. Ich spürte richtig, wie ich die Umgebung, um mich herum besser wahr nahm.
Aber ich spürte auch das Herzrasen und den Stress. Während mein Kopf sich automatisch die schlimmsten Worst Case Szenarien ausdachte und ich echt Angst hatte, wurde mir bewusst, dass der Stress der schlimmste Worst Case ist.
Also kramte ich weiter nach Notfalltools gegen Stress. Die kenne ich doch zu Hauf. Das ist quasi mein Lieblingsthema, wo sind die denn jetzt? Helfen mir diese Tools jetzt überhaupt dabei zu überleben oder sollte ich meine Kraft wieder auf die Umgebung lenken?
Nein Jenny, konzentriere dich. Erstmal den Stress regulieren, dein Herzschlag, deine Atmung. Ja, mein Atem! Erstmal durchatmen.
Eine Atemübung später, konnte ich klarer denken.
Wenn es hier Bären gäbe, gäbe es auch Warnhinweise. Wir waren schon an solchen Orten. An Infoschildern, wie man sich im Notfall mit Bären zu verhalten hat, kommt man eigentlich nicht vorbei.
Die aufgewühlte Erde sieht nach Wildschweinen aus. Auf dem Land in Portugal, wo wir gelebt haben, kamen jeden Abend Wildschweine und sind beim kleinsten Geräusch wieder abgehauen. Die sind sehr scheu.
Ich beruhige mich immer mehr und kann mit David über meine Angst sprechen.
Ich erzähle ihm, dass ich ein Schild gesehen, aber nicht gelesen, habe. Ich habe mich innerlich schon dafür verurteilt und mir das Szenario ausgedacht, dass da definitiv sowas drauf steht wie:
ACHTUNG! KEINEN SCHRITT WEITER! SIE BEFINDEN SICH IN LEBENSGEFAHR!
David hat das Schild gelesen. Dort stand:
Achtung! Baumarbeiten an den Wanderwegen.
Ja, Stress malt die schlimmsten Worst Case Szenarien. Ich konnte mich wieder entspannen und die wunderschöne Natur und die Wanderung genießen.
Zwei Gedanken gingen mir jedoch nicht aus dem Kopf: Die Situation kennen wir doch alle. Nein, nicht die mit dem vermeintlichen Bären. Aber die Stressreaktion. Genau so reagieren wir auch oftmals im Alltag. Obwohl wir uns nicht in Lebensgefahr befinden, reagieren wir dennoch so. Denn das Gehirn kann zwischen der Realität und den eigenen Gedanken nicht unterscheiden. Wort Case Szenarien, bedeuten nicht nur: "ich werde gleich von einem Bären aufgefressen." Sie bedeuten im Alltag auch "mein Haus ist nicht sauber.", "Ich kann den Erwartungen meiner Familie nicht gerecht werden.", "Ich verdiene nicht genug Geld". Für das Gehirn sind die Worst Case Szenarien eine wirkliche Gefahr. Es schüttet Adrenalin, Noradrenalin und andere Hormone aus, die uns im Flucht-oder Angriffsmodus helfen. Auf Dauer aber unfassbar schädlich für uns sind. Wenn wir durch Stress oder das Ausmalen von Stress immer wieder in den Gefahrenmodus gehen, ist das schädlich für unsere Gesundheit. Unser Blutdruck steigt, das Immunsystem wird runtergefahren, die Konzentration sinkt, Müdigkeit und chronischer Stress entsteht. Kleine und sehr schwere Krankheiten haben so die besten Voraussetzungen, um sich zu entwickeln.
Warum tun wir uns das an?
Weil wir nicht wissen, wie wir entspannen können. Wir haben es nie gelernt. Wir sind nicht darauf ausgelegt in einer stressigen, schnelllebigen, erfolgs- und leistungsorientierten Gesellschaft zu leben. Tagtäglich setzen wir uns stressigen Situationen aus. Es liegt an uns dies so gesund wie möglich zu tun. Das heißt, sich mit dich selbst und der Gesellschaft auseinander zu setzen, Stressfaktoren zu verringern, und zu lernen mit dem Stress, der bleibt, umzugehen, zu lernen sich zu entspannen. Und sich dann auch wirklich zu entspannen.
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